12.12.2022 Tagebucheintrag

Seniorenwissenschaft Teil 2

Antwort auf die Krise: Die Wiederentdeckung der Langsamkeit! Ein Segen für Alt und Jung!

Wenn es keinen Herbst auf unserer Welt gäbe, fiele der größte Teil der Ernte aus. So einfach ist das. Und so dramatisch auch. Der Herbst gilt in Landwirtschaft und Feuilleton als golden. Er repräsentiert die Zeit der Reife und der Ernte, eine Festzeit für alle. Und er präsentiert den Lohn aller Mühen. Der Herbst ist die Krone des Jahres. Er ist ein Gewinn. Er ist eben golden.

Aber gilt diese goldene Zeit nur für die Früchte des Feldes? Trägt nicht alles, was es gibt, ein Entstehen und ein Wachsen, ein Reifen und ein Geerntet werden in sich? Wenn das so ist, dass es eben nicht nur für die Pflanzen gilt, sondern, wie der große Menschenkenner und Freund Charly Chaplin in seinem großartigen Text über die „Liebe“ schreibt , auch für unsere Erde, für die Sterne und Galaxien gilt, dass sie nämlich alle ein Kommen, ein Wachsen, ein Blühen, ein Explodieren und Vergehen haben, dann gilt dieses Gesetzt des Kosmos für uns Menschen genauso.

Und so ist es ein wiederzuentdeckendes Grundgesetz der Natur, dass wir Menschen in unserer Lebenszeit auch eine Art Herbst, sogar goldenen Herbst haben, eine Zeit der Ernte, der Lebensbilanzen und der gütigen Rückschau, der Güte und des goldenen Herzens für Kinder und Enkelkinder. Goldene, wertvolle „Früchte“, die wie bei den Früchten des Feldes nicht nur für sich selber bestimmt sind, sondern für alle, die Alten und die Jungen. Wenn es im Leben von uns Menschen diesen so wichtigen goldenen Herbst nicht gäbe, den wir genauso ehren wie den Frühling des Lebens, das Entstehen und Wachsen, dann würden wir ein Leben leben, das den Gesetzen der Natur und den Bewegungen im Himmel auf Erden nicht gerecht wird. Wir würden früher oder später als Wesens auf dieser Welt ausgesondert und eliminiert. Das Anthropozän hatte seine Zeit und verschwand.

Der Herbst unseres Menschenlebens scheint sogar noch weit mehr und wichtiger zu sein als für andere Lebewesen auf unserer Erde, Tiere und Pflanzen, mit denen wir hier auf der Erde in diesem Prozess des Wachsens und Vergehens gemeinsam unterwegs sind. Keine vergleichbare Tier- und Pflanzenart hat einen so lange andauernden Herbst des Lebens wie wir Menschen. Sie alle haben verglichen mit uns Menschen nach ihrer Zeit der Reproduktion nur noch wenig Zeit bis das Vergehen und Vergessen und Verwesen sie einholt und sie sterben.

Generell sind wir Menschen im ersten Drittel unseres Lebens mit Wachsen und Reproduktion beschäftigt. Im zweiten Drittel mit der Aufzucht der kleinen Nesthocker. Und dann müsste eigentlich doch Schluss sein. Die nächste Generation ist gezeugt, geboren und aufgezogen. Die Aufgabe des Lebens erfüllt indem man es weitergab. Ein paar auslaufende Gnadenbrotjahre vielleicht und Ende. Aber warum leistet sich Mutter Natur ein ganzes Drittel unseres kostbaren Lebens für irgendwie nichts? Warum oder besser wozu ein so langer Herbst? Das macht die Natur doch sonst ganz anders. Auf Effizienz und Sparsamkeit über die Jahrmillionen getrimmt, schaltet sie sonst gnadenlos die Energieströme ab. Wozu dient dieser lange Herbst des Lebens? Was sind seine Früchte, die die Natur offenbar von uns erwartet?

Haben wir in unserer Kultur des Wachstums und Mehrwerdens um jeden Preis, auch um den Preis einer angekündigten Apokalypse. verlernt oder übersehen, dass zum Circle of life auch das weniger werden können gehört. Dass das stetige weniger werden, ein müde werden und einschlafen an jedem Abend, zur Komplexität des Lebens gehört. Was ist aus uns Menschengeschlecht geworden, seitdem wir in einem Rausch von Geschwindigkeit nur noch ans Mehren denken und nicht mehr ans Bewahren des Bewährten? Kennt die Wegwerfgesellschaft überhaupt ein Tabu, das sie nicht bereit ist, zu Markte zu tragen? Oder liegen die Alten in unserer Kultur längst auf dem privatwirtschaftlich geführten Altar zum Kauf und Verkauf bereit? Unsere Mütter und Väter liegen längst als Geldquelle auf dem Markt. Entsorgung statt Ehre!

Selten wird die Entgleisung unseres Miteinanders so klar wie beim gesellschaftlichen Umgang unserer Kultur mit den Alten unter uns. Sie sind den jüngeren nicht nur bei der Rentenzahlung eine Last. Sie liegen ihnen nicht nur auf der Tasche. Sie liegen auch auf deren Seelen und da und dort sogar vor ihren schnellen Füßen im weg. Was denkt sich die Natur dabei?

Ganz einfach: Wer eine Last trägt geht langsamer, wird langsamer. Wie wichtig und segensreich solche natürliche Entschleunigung ist, zeigt sich alleine schon mit einem Rückblick auf die letzten gut hundert Jahre, in denen unsere Mobilität und rauschende Geschwindigkeit, mit der wir unser Leben um den Faktor 1000 multipliziert haben. Einmal mehr haben wir das Feuer vom Himmel geholt und es versucht in Motoren zu disziplinieren und zu beherrschen. Aber gelungen ist es uns nicht. Die Zeit der großen Abrechnung hat begonnen. Hören will das keiner. Aber wer nicht hören will wird fühlen müssen.

Mein Großvater kannte als Postillion nur das Pferd, das ihm vorübergehende Schnelligkeit verlieh. Und das waren, wenn es hoch kam, gut 30 Kilometer die Stunde auf dem Rücken des Pferdes. Jetzt aber umkreisen wir mit 34.000 km/h die Erde. Und das soll auf unsere Seelen keinen Eindruck gemacht?

Und was ist nun mit unseren Seelen? Können die überhaupt mithalten? Und was ist mit unserem Miteinander? Zerreißt da was, was sich über Jahrhunderttausende bewährt hat? Ist die Wiederentdeckung der Langsamkeit, der Achtsamkeit, des Genusses, des Aushaltens und des Leidenkönnens und Sterbenkönnens kein Fluch, sondern ein unbekannter Segen auf unserem Weg?

Das haben indigene Völker und Kulturen immer noch auf ihrem Schirm. In ihren Zeremonien und Kulturen. Gesängen und Tänzen, werden das Alte, das Alter, die Ahnen und Mutter Erde, Pachamama verehrt. Sie lebten und leben da und dort noch in einer Kultur des großen Urvertrauens, in dem alles seinen Platz und seine Aufgabe hat. Ihre Häuptlinge und Schamanen, weise Frauen und Heilerinnen sind traditionell alt und erfahren. In Australien nennt man sie: the Elder. Und was ist das, „the Elder“ sein? Was ist deren Aufgabe? Antwort: Sie sind weise! Sie haben über die Jahre und Jahrzehnte etwas gelernt, was man nicht aus Büchern und Dateien lernen kann. Sie haben durch Erfahrung gelernt. Und die braucht Zeit. Da und dort sogar mehr als ein Menschenleben zur Verfügung hat. Alles was man durch sein Tun und Leben an Glück und Unglück sät wird Früchte tragen. Fragt sich nur wann?

Das ist die größte Erfahrung, die man als Mensch unter Menschen erst mit den Jahren lernen kann und ohne Jahre und Jahrzehnte gar nicht. Es ist die Erfahrung der Zeit und wie sie wirkt und was sie mit uns Menschen anstellen kann. Es ist die Erfahrung des Reifwerdens durch Schmerzen und Krisen.

Wir werden geboren und kaum nach dem ersten Schrei machen wir als Kleinkinder schon Tempo. Jetzt will man die Schokolade und nicht gleich. Und wenn man mit den Eltern nach Italien fährt, fragt man nach fünf endlosen Minuten im Maxi Cosi schon, ob man endlich angekommen ist. Kinder haben kein Zeitgefühl und keine Erfahrung. Sie wissen noch nicht, dass die Zeit und die Erfahrung mit der Zeit uns alle verändert und uns reifen lässt wie einen Apfel ab Juli. Diese Reife der Alten ist ein Schatz für alle.

Ein als weise titulierte und erlebbarer Mensch hat sich im Laufe seines Lebens über viel Schmerzen und Enttäuschungen hinweg einen Schatz gesichert, der ihn nun prägt und führt. Es ist ein geradezu biblischer Schatz. : Alles hat seine Zeit! So lehrt das schon der über dreitausend Jahre alte Text des Predigers aus dem Alten Testament. Wenn aber alles seine Zeit hat, dann braucht auch alles seine Zeit, die ein Kind einer Sache oder einem Ereignis nicht bereit ist zugestehen. Dieser wachsende Umgang mit der Zeit prägt die Reife eines jeden Menschen. Er wird aus erfahrener Ungeduld und Enttäuschung entweder sterben oder geduldiger. Er erfährt, dass nicht nur Kartoffeln drei Monate brauchen bis sie Frucht tragen und nicht an dem Tag geerntet werden könne, an dem die grünen Spitzen aus der Erde kommen. Der Weise weiß, dass man an den grünen Grasspitzen nicht ziehen kann um ihr Wachstum zu beschleunigen. Und wo er es dennoch mittels Chemie versucht hat, nun die bittere Rechnung serviert bekommt. Die Zeit lehrt, dass nicht nur die Früchte des Feldes ihre Zeit brachen, sondern alles. Auch Streit und Konflikt, sogar Krieg und Kampf. Alles hat seine Zeit und braucht eine Zeit, alles hat einen Anfang und wenn es den hat, hat es auch ein Ende. Ein junger Mensch kann das nicht erwarten. Der Alte schon. So ein Riss im Verstehen und Handeln gibt es in unseren Familien genauso wie in Parteien und Politik. Das Ungestüme fragt nicht gern nach den Kosten. Die kennt nur das Alter. Die ahnt nur der Weise. Er weiß, dass Geduld über Gealt siegt und dass weiche Wasser den harten Stein schleift.

Und da und dort gib der Weise den Zyklen des Lebens sogar soviel Zeit, dass ein Menschenleben gar nicht reicht, um das Ergebnis eines stattgefundenen Ereignisses noch zu erleben und in Zusammenhang zu stellen mit dem, was einstmals unbedacht gesät wurde. Atomabfall ist nur ein extremes Beispiel dieser Weisheit. Aber die Ausplünderung des Planeten ist sogar noch umfassender. Der Weise sieht auf das Ende. Der Junge auf den Anfang. Aber gehört nicht alles als wesentlich zusammen? „Wehe wehe, wenn ich auf das Ende sehe", lehrt Wilhelm Busch.

Ein weiser Mensch ist also einer, der den Dingen und Ereignissen Zeit zugesteht. Und so sind seine Ratschläge und so sind seine Bewegungen und so wirkt er. Er sieht weiter.

Der alte Mensch muss diese Weisheit gar nicht in Worte fassen können. Er wirkt, so wie er ist, auch ohne dieses Wissen. Er ist langsam, er fällt zur Last, er zwingt der gesamten Familie, der Gesellschaft und der Menschheit eine langsamere bedächtigere Gangart auf. Seine wieder und wiederkehrenden Erkrankungen müssen ins Leben integriert werden. Ein Neukauf ist nicht möglich. Repair als Heilarbeit aber kostet wieder Zeit.

Aus dieser offenkundigen Wunde unserer Zeit aber wächst eine Art Wunder unter uns heran. Unsere Kinder, mehr aber noch die Enkel gehen auf einmal mit dem Segen und Wissen der „Elder“ auf die Straße. Rastlos und überstürzt wie sie sind, fordern sie allerdings nicht ein noch schneller werden, sondern die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Und genau die wird von der jungen Generation als Heilmittel für die gesamte Schöpfung eingeklagt. Achtsamkeit! Weisheit, das alles seine Zeit braucht, die Kultur des Miteinanders gegen eine Kultur des Siegens.

Die Wiederentdeckung der Langsamkeit ist auch die Wiederentdeckung der Alten.