11.12.2022 Tagebucheintrag

Die Angst der Alten oder die alte Angst

Es gibt keine größere und alles Handeln bestimmendere Motivation bei uns Menschen als unsere Angst verlassen zu werden. Sie ist die Wurzel sowohl für den Erfolg unserer menschlichen Zivilisation wie da und dort auch für ihren Zusammenbruch durch Kriminalität ebenso wie durch staatliche Über-Fürsorger.

Wir Menschen sind die Spezies im Tierreich, die am meisten darauf angewiesen sind, dass sie sich auf die anderen Mitglieder der eigenen Spezies verlassen kann. Ein Menschenbaby braucht, um überhaupt überleben zu können, die absolute Sicherheit, dass die Mutter es nicht verlässt. Aber die Angst verlassen zu werden ist dennoch im psychischen Hintergrund immer präsent und bleibt es auch ein Leben lang. Ein verlassener Mensch kann nicht lange Mensch bleiben. Ein von Gott und aller Welt verlassener gilt als ver-rückt und nicht bei Trost.

Das erste Viertel des Menschen in Kindheit und Jugend ist eben kein Leben, das man selbstbestimmt führt, sondern in erlebter zugestimmter Abhängigkeit von den anderen Mitgliedern der Familie bzw. der eigenen Mutter. Menschen sind Vertrauenstiere, Herdentiere, die durch Imitation lernen und lieben. Das macht ihren evolutionären Erfolg aus.

Erwachsen und reif werden bedeutet in unserem Fall, dass das Kind sich langsam und mühsam durchwachsendes und zu erarbeitendes Selbstvertrauen aus dem Vertrauenskokon der Mutter bzw. der Familie emanzipiert und Stück für Stück Verantwortung über - von anderen also weg - nimmt und durch eigene Entscheidung für sich und andere fällt. Selbstvertrauen aber bekommt ein Mensch nicht automatisch durch Altern, sondern durch eigene Erfahrungen. Die Geschichten von Kasper Hauser einerseits und psychosozialen Experimente erzählen von diesen inneren Prozessen. Selbstvertrauen ist das Ergebnis elternlos durchgemachter Nächte, Trial-and-Error, Erfolg und Misserfolg. Initiationen bei indigenen Völkern um den Beginn der Pubertät herum werden inszeniert, indem die Heranwachsenden ganz bewusst Gefahren ausgesetzt werden, die sie mit eigener Hand und eigenem Verstand oft in der Nacht allein bestehen müssen. So wird ein Mensch erwachsen und bekommt von der Gesellschaft früher oder später ein Stimmrecht, das ihn Selbstbestimmtheit bescheinigt. Egal wie fragwürdig so ein Begriff ist.

Wie sehr die elementare Angst verlassen zu werden das ganze Leben weiter bestimmt, Narzissten und Egomanen produziert, zeigt sich in all den bevorstehenden und unausweichlichen Lebenskrisen. Die Selbstmordquote bei Männern ist nach einer Scheidung extrem hoch. All die gewalttätigen Auseinandersetzungen in diesen Krisen zeugen von der elementaren Tiefe dieser Angst. Sie bestimmt alles. Alle Sicherungen der Kultur brenne durch. Die Angst verlassen zu werden und diese zu bekämpfen mit allen Mitteln ist da und regiert alles. Sie bestimmt unser Handeln. Und wenn in Middle Crisis und Trennungskrise und gesundheitlichen Krisensituationen das kulturelle zivilisatorische Beiwerk zerbricht und durchlässig werden lässt, ist die alte Angst wieder da. Und Männer wehren sie ab durch Gewalt hier und Suizid dort. Und Frauen suchen sich Frauengruppen, um diese Zeit des Verlassenseins zu übertünchen

Im Alter aber, weil das Leben eben einem Muster in der Evolution folgt, beginnt der Abstieg aus der Selbstbestimmung mit den nachlassenden Kräften in Potenz, Hirn und Hand und Fuß und die zunehmen Mühe, es immer wieder neu zu einem neuen, eigenen Selbstvertrauen zu implementieren. Doch man scheitert mehr und mehr. Schwindende Kräfte.

Das ist im Grunde natürlich. Denn wie das Baby und das Kleinkind in seinem Wachsen sich seit Jahrhunderttausenden auf die Mutter und die Familie und den Stamm verlassen musste und konnte, so konnte der alte Mensch es ebenso. Nur, dass anstelle der Mutter die Kinder und Enkel treten, der Clan, der oder Stamm, die das langsam versiegende Selbstvertrauen des Einzelnen in einer Atmosphäre des Vertrauens auffangen. Alte sind Vertrauensselig. Wie Kinder. Beide können nicht anders Das ist nicht Naivität, das ist das Fruchtwasser des Geborenwerdens und Alterns. Vertrauensseligkeit ist das beste Wort für diese grundlegende Form der Menschlichkeit!

Wir Menschen sind eben nicht nur die längsten Nesthocker am Beginn unseres Lebens, sondern im Alter ebenso. Fast die Hälfte unseres Lebens sind wir auf anderen Mitmenschen angewiesen und auf ihr Vertrauen. Nirgendwo sonst in der Natur gibt es einen so langen und scheinbar nichtsnutzigen Teil des Lebens, weil die Reproduktion doch längst abgeschlossen ist, wie bei der Spezies Mensch. Als wenn wachsende Weisheit, die erst im Alter eintritt, in dem man Geduld in das System des Lebens und Akzeptierens lernen muss, mit der kein einziges Kind geboren wird, Der alte Mensch kann sich auf die anderen verlassen. Das sitzt so tief in den Genen wie kaum etwas. Sexualität, essen, trinken, Dominanz, das sind die Triebfedern und Motive für alles Handeln. Im Alter aber muss die Dominanz durch eine natürliche Vertrauensseligkeit ersetzt werden. Augen sehen nicht mehr. Ohren hören nicht mehr, die Beine tragen nicht mehr und die Hände können nicht mehr so festhalten wie früher.

Den hohen Stellenwert, den alte Menschen bei den indigenen Völkern vor unserer Zeit genossen, ist ein Zeichen davon. Als wenn die erlebte Vertrauensseligkeit der Alten auch ein Motiv wäre, Kinder auf eine Welt zu bringen, in der man sich bis auf den letzten Tag auf die anderen verlassen kann. Kinderlosigkeit ist weiß Gott kein Zeichen von Vertrauensseligkeit, sondern vom Streben nach Sicherheit versus Vertrauensseligkeit.

Aber moderne Familienplanung und Sozialgesetzgebung haben dieses familiäre Vertrauen in Institutionen verschoben. Den neuen Institutionen soll nun das ganze Vertrauen der Alten gehören. Tut es aber, nicht. Das beweist einmal mehr unser Umgang mit den Alten unter uns, wo sie wie leben. Das fand seinen skandalösen Höhepunkt in der Coronakrise, als Alte und Kranke sterben mussten weil sie weder körperlich noch seelisch von den anderen geschützt wurden.

Im Inneren der Alten schlummert immer noch die alte Energie und das alte Muster, dass nur Vertrauensseligkeit dem letzten Stück Leben einen Sinn für sich und die anderen gibt, eine Gewähr, dass das Leben gelingt. Dieses Wissen und diese Wunde in uns allen, diese Ur-Angst verlassen zu werden nutzen nun Kriminelle aus mit ihren Enkeltricks. Wo der Enkel nämlich in Gefahr geraten ist, ist eben nicht nur der Enkel in Gefahr, sondern tief, tief im Instinkt des Senioren, er selbst, das seit Urzeiten bewährte System des sich Aufeinanderverlassenmüssens. Der alte Gesellschaft- und Familienvertrag ist in Gefahr. Wenn der Enkel wankt, wankt der alte Mensch mit. In diese seelische Flanke zielt der Enkeltrick mit dem viele verblüffenden Erfolg, wenn man diese Zusammenhänge draußen vorlässt. Wir alle aber sind in unserem Handeln nicht durch Rationalität bestimmt, sondern von Motivationen, die tief in unserem Wesen liegen.

Das kann dann auch ganz absurde Blüten treiben, wenn ein alter Mensch, der einen Betreuer zugewiesen bekommen hat, und durchaus mitbekommt, dass er von ihm übervorteilt wird, diesen gegen besseres Wissen und alle Beweise verteidigt. Der alte Mensch vertraut den Institutionen nicht. Er erlebt es doch täglich, dass darauf kein Verlass ist und kein Vertrauen gegründet werden kann. Es geht also nur weiter ins hohe Alter über die alte Brücke des Vertrauens von Mensch zu Mensch. Nicht aber mit Kontrolle. Denn davon hat der alte Mensch nicht mehr die Energie, sie auch zu leben.

Er ist -vergleichbar-schließlich missbraucht worden. Er kann sich vom Vertrauensmissbrauchstäter solange nicht lösen, solange er kein Vertrauen in die Institution hat, die den Täter stellen will, vergleichbar mit der Verarbeitung von sexuellem Missbrauch von Kindern durch die Eltern bzw. Vertrauenspersonen. Auch die werden vom Opfer vor Gericht geschützt, weil die lebenserhaltende Energie des Vertrauens höher und tiefer in unserem Wesen angelegt ist, als die pseudo-Sicherheit durch die Institutionen und Instanzen. Ein missbrauchtes Kind liebt seinen Vater auf einer tieferen Ebene immer noch. Ein missbrauchter Senior fürchtet sich, gegen den Betreuer bzw. Vertrauten anzutreten, wie das Kind bei Gericht gegen seine Täter. Und wir bleiben voller Unverständnis zurück, wie man denn nur seine eigenen Missetäter schützen kann, um ihnen sogar am Ende zu folgen. Die Angst der Alten verlassen zu werden hat sie nie verlassen. Jetzt halten sie sich sogar daran fest.