01.11.2020 Tagebucheintrag

Jürgen Fliege, München

Erinnerungsprotokoll zum 1.11.20, 16 Uhr, Theresienwiese. Querdenkerdemo.

1. Meine Frau Andrea und ich mit einem Lutherapfelbaum erreichen die Wiese gegen 16 Uhr. Wir warten vor der Security auf Einlass zum Bühnenbereich, setzen uns still in ein Zelt. Da stellt sich uns der Versammlungsleiter vor, im Gefolge RA Markus Haintz u.v.a.m. Sie erklären, dass sie keinen Erfolg gehabt hätten, gerichtlich mehr als 1.000 Teilnehmer*innen auf der Wiese begrüßen zu dürfen und folgerichtig die Versammlung abzusagen sei. Sie fragen mich, ob ich zur selben Zeit am selben Ort mit den Demoteilnehmer*innen einen Gottesdienst feiern wolle, da Gottesdienste in Bayern nicht den Auflagen der Demo unterliegen würden. Das ist mir bekannt. Auch aus Wackersdorfzeiten am Bauzaun, aus dem Wendland, aus dem Hambacher Forst Startbahn West in Frankfurt u.v.a.m. Ein spontaner Gottesdienst könnte auch die nun zu erwartenden Eskalationen ausbremsen.

2. Ich lehne dennoch ab. Biete aber meinen vorgesehenen Beitrag für einen solchen Gottesdienst, der in seiner Gesamtheit nicht von mir allein verantwortet würde, sondern von einem anderen Pfarrer/Pastor, an. Derweil schaut meine Frau im Internet nach, wer eigentlich nach juristisch restriktiver Auslegung einen Gottesdienst leiten darf. Das Netz deckt mein Wissen ab, dass es auch Prädikanten, also von einer Kirche Beauftragte sein können. (Nicht berücksichtigt, dass Gottesdienste in einer Form und Notlage von jedermann gehalten werden können.) In jedem Fall brauchen sie keine Genehmigung durch die Ordnungsbehörden.

3. Die Veranstalter erklären mir, dass sie den Berliner Pastor Christian Stockmann, der einer Freikirche angehört, dafür gewonnen haben. Da Freikirchen zur Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen gehören, sage ich meine oben versprochene Mitarbeit zu.

4. Jetzt geht RA Haintz ans Mikrofon und erklärt zum einen, dass die Demo abgesagt sei und stattdessen ein gesetzlich erlaubter Gottesdienst mit Abstandsgebot stattfinden würde. Wer daran teilnehmen möchte, sei eingeladen. Die umstehenden Polizeikräfte greifen nicht ein. Es wird keine polizeiliche Ansage verbreitet, dass die Demo und das Gelände zu verlassen seien bzw. auch keine, dass der Gottesdienst illegal wäre.

5. Ein engagierter älterer Bayer beginnt spontan die Bayernhymne mit den Musikern quasi als Introitus zu intonieren. Ich bin nicht textsicher und wende mich zur Seite. (Ich lasse auch hier solche spontanen Beiträge unwidersprochen, solange sie dem Geist der Andacht nicht zugegenlaufen. Da, wo das passiert, wie später im Gottesdienst bei „Söder muss weg“-Rufen, werde ich widersprechen und zur Ordnung rufen.)
Pastor Stockmann beginnt in bekannter charismatischer pfingstlicher Manier den Gottesdienst unter Anrufung Jesu. Stellt später dann mich vor. Ich bedanke mich bei ihm für die Einladung, trete nach vorne und begrüße die versammelte Gemeinde im Namen Gottes..., schlage wie Luther vor 500 Jahren ein Kreuz auf meiner Brust.

6. Ich erkläre nun den Sinn und die seelische Bewegung des Allerheiligenfestes: Besuch der verstorbenen Heiligen und in ihrem Schatten traditionell Besuch der Gräber der Vorfahren etc. Ich nehme meditativ die Gemeinde mit zu den Gräbern der Mütter und Väter unseres Grundgesetzes. Warum nicht auch dieser Mütter und Väter an diesem Abend denken und gedenken.
Ich leite nach dieser thematischen Einleitung über zum traditionellen Kyrie, in dem wir uns vor Augen führen, was uns beschwert und um Beistand und Erbarmen bitten.

7. Ich verlasse die Bühne und bitte in „Backstage/Sakristei“ alle Mitwirkenden, ihre Manuskripte für die Demo zu vergessen und allein aus ihrem Herzen heraus vor Gott und seine Gemeinde zu treten. Sie zeigen mir nun u.a. Psalmen, heruntergeladen aus dem Netz. Es werden Fürbitten vorbereitet.

8. Nach den Kyrie-Beiträgen und einigen geistbegabten spontanen Beiträgen und NT-Auslegungen des pfingstlerisch begabten Pastors halte ich meine Predigt: „Gnade sei mit Euch und Friede von Gott unserem Vater…“.

9. Nach der Predigt, die ich mit einem Segen abschließe und der Luther-Geste, mein Hoffnungs-Apfelbäumchen der Polizei zu schenken, verlasse ich mit meiner Frau vor 18 Uhr den Gottesdienst. Mit uns verlassen viele, viele Polizeifahrzeuge in aller Stille die Wiese und ich freue mich, dass ich mit meinem Beitrag im Gottesdienst auch dazu beigetragen habe, dass es Frieden statt Gewalt gab.
Die Vorstellung, dass ein paar Tausend aufgebrachte Demonstranten von 1.000 Polizisten gewaltsam an ihren vermeintlichen oder nicht vermeintlichen Rechten gehindert würden, verliert ihren Schrecken.

10. Was nach meinem Abgang passiert, entzieht sich meiner Kenntnis.

Jürgen Fliege