30.05.2020 Tagebucheintrag

Jürgen Fliege, La Palma

Die Würde des Menschen

Wer nun wirklich mit einem Anderen und auch offen reden will, um zu verstehen – die Politikerspreche heißt ja seit ein paar Jahren: "Wir haben verstanden!" – der sollte vielleicht lange verheiratet oder sonst voller Verzweiflungs- und Versöhnungserfahrung sein. Ein Mediator wäre gut. Verständigung und dann Versöhnung geht ja ungefähr so: Der Klügere oder Leidende fängt an und sagt: Ich sehe deine Tränen und höre dein Seufzen, deine Schmerzen, dein Zweifeln, und unsere zunehmende Entfremdung kümmert mich mehr und mehr. Und ich frage mich leise, was ich vielleicht falsch gemacht habe, dass du mir nicht mehr über den Weg traust! Das muss eine alte Geschichte haben. Können wir reden?
Bei Verstummen und Streit in der Beziehung helfen kein Datencheck und Nachhilfeunterricht im Rechthaben und Rechtbehalten, sondern vorsichtige, tastende Schritte in den Schuhen des jeweils anderen. Da braucht man keinen Experten. Das haben gute Bundespräsidenten schon vorgemacht. Versöhnen statt spalten.
Zum Beispiel: War es wirklich richtig und unausweichlich, die Sterbenden allein zu lassen? War das nicht ein kalter Anschlag auf die unantastbare Würde des Menschen? Und was für einer! Das ging und geht gar nicht. Das wird immer zum Himmel schreien. Das war der größte Sündenfall der Krise. Selbst im allerschlimmsten Kugelhagel der Feinde robben die Soldaten unter Lebensgefahr und holen ihren sterbenden Kameraden zu sich in den eignen Graben. Das ist das Versprechen in jeder Armee. Gestorben wird in den Armen der Angehörigen.
Stattdessen erlebe ich eine Fahnenflucht aus unseren so oft bemühten Werten. War da mal etwas mit Würde? War das angemessen, fragen ja mittlerweile auch die Gerichte, die Alten wochenlang ohne Schutz in Alten- und Pflegeheimen in ihre Zimmer zu sperren? Essen, wenn möglich, auf dem Gang serviert wie im Gefängnis?
Wie einfach war das für die Regierung und das selbstentleibte Parlament, die Kirchen und da und dort auch den Wald für jedermann zu schließen! Herkömmliche Spiritualität und Gemeinschaft, das stellt sich im Kapitalismus heraus, sind eben keine Lebensmittel mehr, weil ja bei Aldi und Lidl nicht zu haben. Sie sind zu billiger Folklore verkommen. War das richtig, das Singen von Chorälen, das uns aufrichtet und stark macht, gänzlich zu verbieten? Beispiel gefällig: Im Stehen zu singen in großer Not und Traurigkeit zum Aufbau der Resilienz von Körper, Geist und Seele, Luthers Choral Ein feste Burg: „Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen, so fürchten wir uns nicht so sehr, es muss uns doch gelingen!“ War das richtig, bei jeder neuen Durchsage aus Berlin himmelhohe Angst zu verbreiten? So viel Angst in Millionen von Herzen zu schütten? Und dann jeden Tag einen neuen zweiten Teufel an die Wand zu malen, weil das Blut des ersten Teufels mit den Daten an R-Strahlkraft abnahm, verblasste und abzublättern begann?