07.12.2019 Tagebucheintrag

Jürgen Fliege, La Palma

Liebe Mutter, heute würdest du 105 Jahre alt. Ich vergesse dich nie! Du hast mich nicht nur einmal geboren. Als einer von sechsen musste ich um deine Hand kämpfen, in die ich meine kleine geborgen legen wollte. Als mit sieben Jahren die Schule mir blöd kam, hab ich den Lehrerinnen das mit dem Verweis gesagt, dass du das auch so siehst. Stunden später haben sie bei dir den Aufstand geprobt. Als ich Dreikäsehoch Pfarrer werden wollte, hast du an mich geglaubt und jedes Sitzenbleiben deines Sprösslings mit Geduld hingenommen. Und als ich den Talar endlich tragen durfte, warst du gleichzeitig die erste Frau im ganzen Rheinland, die in den Kirchenvorstand aufrückte. Wir beide! Wir wollten die Kirche verändern, weg mit dem verschwurbelten Gerede, hin zu praktischen Taten und geerdeter Sprache. Ich glaub, ich bin auch für dich Pfarrer geworden. Erst jetzt sehe ich, wie sehr du als junge Frau deinen warmherzigen Pfarrer verehrtest. Als er unsere kleine Stadt verließ, sind wir beide einmal im Jahr zu seinen Gottesdiensten gepilgert. An die anderen Geschwister erinnere ich mich nicht. Und als ich als großer TV-Star zu deinem 85. eine Rede halten wollte, hast du mich unterbrochen, weil das Essen kalt werden könnte. Ich verneige mich!