07.10.2019 Tagebucheintrag

Jürgen Fliege, München / Halle / Berlin

Der Zug hat keine Reservierungen und zwei Wagons weniger als normal. Kenn ich und beklag mich nicht. Die Bahn ist unsere Hoffnung und das von unserer Regierung sträflich vernachlässigte Kind. Warum soll ich auch noch draufschlagen? Im Zug habe ich endlich Zeit, den letzten Stand der Stiftungsanträge zu studieren. Wem sollen wir 10.000 Euro geben, der Familie, in der Vater und Mutter Krebs haben und alles zusammenbricht oder der Frau, die von einem Dobermann-Hund so hergerichtet worden ist oder, oder, oder? Ich habe viel telefoniert. Aber jetzt müssen wir im Stiftungsrat entscheiden.
Als wir durch Halle fahren, ahne ich nicht, dass ein paar Tege später der Name der Stadt in aller Welt einmal mehr für Judenhass und Antisemitismus in unserem Volk stehen wird. Heute ist sie noch die Stadt mit der alten Universität.
In Berlin geh ich durch die Zeltstadt der Mitrebellen am Kanzleramt. Dann weiter durch den Tiergarten zum großen Stern. Die Polizei hat klugerweise den Verkehr großräumig umgeleitet, sodass kaum ein Auto auf die Blockierenden trifft. Ich bleib ein bisschen, setzt mich dazu, höre dänische, schwedische und slawische Laute. Fühle mich um 50 Jahre jünger. Bin hier wohl der Älteste. Das hat was Religiöses hier. Es wird viel gesungen und Essen geteilt, geschwisterlich, und die im Religiösen verwurzelte Tradition der Gewaltlosigkeit, mit der man den Gewaltigen dieser Welt allein kommen kann. Später lese ich in den Zeitungen, dass wir deswegen wohl eine Sekte seien. So einfach kommt man in die Schubladen. Wahrscheinlich auch, weil alle hier bereit sind, ein Opfer zu bringen, ihren Ruf, ihre Freiheit, ihre Karriere oder was auch immer setzen sie aufs Spiel. Und Opferbringen hat ja leider nur noch in verkommenen Religionen einen Stellenwert, oder?
Ich glaube längst nicht mehr an Parolen, wer immer sie auch brüllt. Ich vertraue dem stillen und entschlossenen Protest. Ich vertraue dem biblischen Sandkorn, wenn es ins Getriebe fällt. Ich vertraue dem Wort des Herrn, der jedem von uns empfahl, in die Kelter oder Mühle zu fallen wie ein Korn, um für andere da zu sein als Wein oder Brot.
Quer durch den Tiergarten um den Potsdamer Platz. Da setz ich mich hin, wie lange auch immer, packe meine vegane Stulle aus und warte. Es dauert bis halb sieben, bis die Polizei den Platz räumt. Und weil ich nicht weichen werde, stellt sich die Frage, ob ich ein Hotel buchen soll oder eine Zelle auf mich wartet. Ich warte ab. Komisches Gefühl, die Polizeilautsprecher, und ich gehorche nicht. Es wird dunkel. Weil ich nicht in der ersten Räumungsreihe sitze, dauert es mehr als eine Stunde, bis ich dran bin. Mich wegtragen zu lassen, geht für mich noch nicht. Zuviel Baby-Pipimachenmüssen-Haltung. Aber weichen will ich nicht. Der Beamte zieht mich am Arm hoch und ich helfe nach. Dann führt er mich ab. Am Polizeibus dann das übliche erkennungsdienstliche Theater, Fotos, Ausweis etc., mehr nicht. Ich könnte mich jetzt wieder hinsetzen und das Spiel begänne von vorne. Aber für heute ist es okay. Nächstes Mal mehr! Ich suche ein Hotel und nehme den ersten Zug am Morgen, damit ich noch ins Büro komme. Die Stiftungsfälle dulden kein Gefängnis.