Jürgen Fliege, Feldafing
Eine unserer Töchter malt in der Küche ein Pappschild für die Demonstration morgen. Freitag. Fridays for future! „Aber dich gibt’s nur einmal für mich!“ steht drauf. Und dazu eine aufgeklebte Erdkugel. Nix Professionelles. Eher gewollt einfach. Ich erlebe unsere Kinder mehr und mehr ernsthaft und da und dort auch entschlossen. Längst darf ich keine Plastiktüte vom Einkauf mehr mitbringen. Und es wird Fahrrad gefahren statt Auto, wo immer es geht. Vegan essen sowieso. Ist das nur eine politische Mode oder Zeitansage? Wie lehren die Weisen aus China: Es gibt nur einen richtigen Zeitpunkt: Jetzt! Es gibt nur einen wichtigen Menschen: Mein Nächster! Und es gibt immer nur eine richtige Tat. Reagieren!
Abends sehe ich noch einmal das Mädchen aus Schweden mit den „unschuldigen“ Zöpfen im TV. Greta Thunberg. Sie war mir schon vor vielen Monaten bei ihrem ersten großen UN-Auftritt in Polen aufgefallen. So kann kein Mädchen in diesem Alter reden. Geschliffenes Englisch. Auf den Punkt formuliert. Ernstes Gesicht. Kein Lampenfieber. Keine Angst. Welcher Geist wohnt in ihr? Ist sie ein neuer Mozart, der dieses Mal nicht die Musikgeschichte aller Zeiten bestimmt, sondern die ökologische Geschichte aller Zeit prägen wird? Seitdem beobachte ich sie. Nein! Ich beachte sie. Das ist etwas ganz anderes. Der Beobachter, ein Journalist zum Beispiel, sieht zwar alles, hört alles, lässt aber nichts in sein Herz. Der Beachter aber lässt alles in sein Herz und begegnet ihr mit Achtung.
Sie ist eine Prophetin im klassischen, biblischen Sinn. Nichts macht das deutlicher als ihr furchtloser Ruf in die Wüste der Konsumgesellschaft und ihr Auftreten vor den Größten dieser Welt. Sie spricht wie von einem anderen Stern. „I want you to panic!“ Das haben in dieser Klarheit und Eindeutigkeit die Propheten des Alten Testaments nicht besser gekonnt. Die treten, wie der Prophet Jona in Ninive zum Beispiel, am Ende angstfrei vor die Größten der Stadt und des Erdkreises und sagen im Auftrag des Schöpfers dieser Welt: „I want you to panic!“ Und wie ein Jona, dessen Geschichte schon viel, viel älter ist als sie endlich in die Schriftreihen des Heiligen Buches aufgenommen wird, hat das Mädchen aus dem Norden ihre Nachtfahrt hinter sich. Bevor Jona in aller Klarheit seine Sätze stockend formuliert, hat er seine persönliche Odyssee oder eine Wanderung durch das Schattenreich hinter sich. Das Mädchen hockt da am Anfang mit eingezogenen Beinen, die Zöpfe unter einer traditionellen aber irgendwie lächerlichen Strickmütze hervorlugend und mit einem selbstgemalten Pappschild in einer „Engelsgeduld“ auf dem Bürgersteig. Der eine, Jona, muss auf seiner Flucht aus Angst vor dem Aussprechen des gewaltigen, großen einfachen Satzes auf ein Schiff flüchten, in einen Sturm kommen, von Bord geworfen werden, untergehen und gefressen werden von einem großen Schlund, im Bauch des Grauens überleben, ausgespuckt und gereift für den Auftritt mit dem großen Satz: „I want you to panic!“ Die andere, Greta, das Mädchen mit den Zöpfen, flieht in ihre Krankheit, in die Sprachlosigkeit, in eine dunkle Isolation sondergleichen, ins Autistische, um dort irgendwo im Dunklen den vielleicht alle rettenden Satz zu finden, den sie mit aller Kraft in die ganze Welt hinausschreit. Der Satz, den die Welt verändern kann.
Liebe Leserinnen und Leser, die meint uns mit ihrem Satz! Scheiße! Gott meint uns! Scheiße! Wir sind enttarnt! Greta will, dass wir uns fürchten. Aber hört doch noch einmal genau hin, hört die Stimme, hört die Klarheit, hört die Entschlossenheit, hört die Reinheit des Wortes. Das ist nicht sie. Verdammt, wir sind doch in den spirituellen Kreisen sonst so geil auf die Stimme irgendwelcher hergelaufenen säuselnden Medien und Engel. Das ist nicht sie: Nicht Gerta will, dass wir uns fürchten und umkehren wie die Leute von Ninive, die endlich ihr Haupt in Sack und Asche hüllten und einen sauberen Weg des Miteinanders einschlugen, sie spricht im Auftrag des Universums.
Das muss doch für Leserinnen und Leser dieser Tagebucheinträge eher nachzuvollziehen sein als für die Leser, spricht Konsumenten von Spiegel und Stern. Das Universum, Gott, spricht: „I want you to panic!“
Propheten und Prophetinnen wie Jona und Greta sagen nicht die Zukunft voraus. Das sind keine Apokalyptiker. Das ist nicht ihr Interesse. Sie sind im Grunde keine Seher, die in die Zukunft schauen können. Sie sind nicht visionär und sehgestört. Sie sind klar. Sie sind im Grunde Datenmonster, die die Beobachtungen der Wirklichkeit evaluieren können nach den Basics, die es am Ende braucht, um zu handeln. Propheten sind Warner und Mahner! Und wo sie auftreten, ist die Panik nur der erste Schritt, der in sich die universal gesendete Hoffnung trägt, dass es nicht zu spät ist, ihrer Botschaft zu folgen. Warum sonst schickt uns das Universum solche Propheten, wenn die Welt eh untergehen würde, chancenlos? Noch ist Zeit, denn wer hören will, muss nicht fühlen oder am Ende gar nichts mehr.
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