Jürgen Fliege, La Palma
Und was ist mit unserer Mutter Kirche?
Wenn wir als Kirche und Kirchenleute in der Öffentlichkeit überhaupt in den letzten Jahren eine Kernkompetenz behalten bzw. zurückgewinnen konnten, dann ist das in der Palliativ- bzw. Hospizarbeit und in der Sterbebegleitung. Da haben wir gelernt. Und da drängt sich keiner so leicht hin. Alle erfahrenen PfarrerInnen wissen das längst. Wenn sie nämlich irgendwo zu einem beliebigen Termin zu spät kommen, sagen sie gerne, sie seien bei einem Sterbenden gewesen. Da verstummt der ganze Ärger. Der Tod ist im Raum und herrscht. Menschen zu begleiten auf ihrem letzten Gang ist für die Kirche essential. Es ist der USP der Geistlichkeit. Da wagen sich die säkularen Sozialdienstarbeiter des Staates ganz ohne Lieder, Stille, Hingabe, Rituale, Kerzen und Gebete nicht ran. Da versagt der Verbraucherschutz. Da geht’s ans Eingemachte ohne jedes Verfallsdatum.
Doch unsere Konsumgesellschaft hat die Allgegenwart des Sterbens ausgelagert und nicht mehr integriert. „Outsourced“, nennt man das in der modernen Wirtschaft. Das rächt sich gerade so bitter. Erfahrungslos faselt alle Welt von drohender Triage, die wir doch jeden Tag vornehmen. Stimmt doch! In Krieg und Frieden. In Krankenhäusern und in Krankenkassen. Zu teuer, zu alt, lohnt nicht! Wer kennt nicht die Bescheide? Und nicht nur da. Wir opfern doch täglich für unseren Lebensstil Kinder, Frauen und Männer. Doch jetzt auf einmal fürchtet sich das Volk vor jedem toten Greis.
Ich weiß es aus vielen Jahren Sterbebegleitung und Trauerarbeit, analog und digital! Wie viele Angehörige wollen ihre Verstorbenen nicht einmal mehr sehen? So groß der Tod, so groß die Angst! Sie haben eben kein Wissen und keine Ahnung mehr vom Leben, weil sie das Ende des Lebens nicht sehen wollen. Das säkularisierte gottlose wissenschaftsgläubige Volk ahnt nur das Ende, kennt nicht den Anfang. Kein Psalm mehr im Herzen. Keine Himmelsleiter. Kein "der Wolken, Luft und Winde gibt Wege, Lauf und Bahn" (Paul Gerhardt: Befiehl du deine Wege“). Kein griechischer Fährmann mehr, der noch ruft, kein Johann Sebastian Bach. Kein Händel. Und kein Halleluja mehr, weil es ja ansteckend sein könnte. Es sei denn hinter vorgehaltener Hand.
Wir werden durch diese Corona- Kopf- und Herzlosigkeit in unserer menschlichen Entwicklung zur Hingabe, Resilienz und Aufgeschlossenheit bei aller vorübergehend neu entdecken Liebe für den Nächsten zwanzig, dreißig Jahre zurückgeworfen. Weit zurück, bis in das Ende des letzten Jahrhunderts, wo wir an vielen Fronten dafür warben und arbeiteten, dass der Tod zu akzeptieren sei und nicht immer und zu jeder Zeit auf Teufel komm raus zu bekämpfen ist. Der Tod kommt auch als Freund, als Erlöser, als Erbarmer. Ja, das ist wahr! Mit Elisabeth Kübler-Ross, seligen Angedenkens, haben wir Instrumente, Tools entwickelt, wie wir ihn annehmen könnten, Patientenverfügungen gegen eine Ausrüstungsmedizin um jeden Preis, Palliativmedizin, also einen Pallium, einen wärmenden Mantel um den fröstelnden Sterbenden – statt nur beheizte Intensivstationen – all das wurde entwickelt und Gott sei Dank gebaut. Und wer starb, wurde auch nicht gleich im Plastiksack wie Sondermüll aus dem Haus getragen, weil Leichengift zu befürchten war, wie man es uns mit dem Bundesseuchengesetzen weismachen wollte. Aber so weit ist das Berliner RKI mit seinem anfänglichen Verbot, Leichenschau zu halten, wohl immer noch nicht, wenn wir unsere Verstorbenen mit bürgerlichem Ungehorsam tagelang zuhause aufgebahrt lassen, um Zeit für Abschiede zu haben. Denn wer vom Tod nicht verängstigt und nicht ausweicht, der hat Zeit für über den Tod hinaus nachgetragene Liebe und spart sich für die nächsten Jahre seine uneinholbare Trauerarbeit und Therapiekosten.
Wo also waren wir kirchenbeamteten Adams und Evas, als Gott in Gestalt der Sterbenden uns rief? Wir hatten uns versteckt. Wir hatten Termine. Wir waren in Berlin bei Hofe, um uns einnorden und einlullen zu lassen. Da waren wir. Und wir wurden dort belobigt, sanft über den Kopf gestreichelt, weil wir brav waren und versprachen, mit in den Krieg zu ziehen als Feldprediger gegen das asiatische Virus. Da waren wir.
Aber zuhause, da waren währenddessen doch auch unsere sterbenden Großmütter, Schwestern und Brüder, die ihr ganzes Leben unter unseren Kanzeln saßen, immer auch in der Hoffnung, die Kirche und ihre DienerInnen wären am letzten aller Irdentage für sie da? Wo waren wir?
Da aber, wo eines der Sieben Werke der Barmherzigkeit seit alters her es von uns erwartet und verlangt, da waren wir nicht. Wo warst du, Kirche, als die Menschen nach deinen DienerInnen und deinem göttlichen Trost, dem heiligen Öl, deiner Hand und nach der Hostie, dem Brot des Himmels rief? Warst du zuhause? Hattest du auch so viel Angst wie die anderen? Hattest du wenig, zu wenig Gottvertrauen? Hattest du keine Erinnerung mehr, angstgelöschte Erinnerung an die Geschichten Jesu?
Oder wartest du, mit Beamtengehalt versorgt, wieder bis nach dem Sturm auf dem See – und dann darauf, dass es irgendwann wieder Zeit und billiger wird, ein sogenanntes Schuldbekenntnis abzulegen? Deine sattsam bekannte Spezialität aus der Speisekarte des Wortes Gottes.
Ich sah sie kirchenleitend und vorbildhaft fast alle in Reih und Glied als Feldprediger im "Gerechten Krieg" gegen das Virus. Sie liebten den Feind nicht. Sie verachteten die Worte ihres eigentlichen himmlischen Herrn. Sie konnten in ihrem Anthropozentrismus nicht sehen, dass auch ein Virus eine Funktion in der Schöpfung hat. Kleiner, viel kleiner als ein biblisches Senfkorn hat es Macht, die Welt zu verändern. Schaut das unendlich kleine Virus! Es setzt uns gewaltig unter Stress, damit wir endlich antworten auf all die längst übertragenen und verleugneten Infektionen unserer Zeit. Wir könnten ja „responsable“ sein, also in der Lage zu antworten. Wir aber greifen zu den Waffen.
Vielleicht aber ahnten die Prediger wohl intuitiv, dass es im kapitalistischen Hamsterrad auch mit genügend Klopapier kein gutes Ende nehmen wird. Und dann sagten sie ihr „Ja“ dazu und ihr „Amen“ in der apokalyptischen Weltuntergangsübung und bebilderten es sprachlich mit Szenen aus der flämischen Malertradition eines Pieter Breughel.
Aber wie der verlachte, verleumdete Prophet Jesaja, 700 vor Christus, die totbringenden Fremden aus dem Osten irgendwie willkommen zu heißen mahnte, mitten in der engen menschenschwangeren Stadt Jerusalem voller Kinder und Frauen, um Schlimmeres zu verhüten, und um endlich aus den nutzlosen Wehranlagen mit den verengten Sehschlitzen zu kommen, das konnten sie mal wieder nicht. Piet Breughel Adam, wo bist du? Jesus, der Mensch der Menschen, der in diesen Augenblicken von Jesaja vor über zweieinhalbtausend Jahren prophetisch gedanklich in unserer Kultur angelegt wurde und dann auch kam, war anders. Ihm zuzuhören und zu folgen ist nötiger als alles andere. Ich wäre gern sein Mitläufer.
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