23.11.2018 Tagebucheintrag

Jürgen Fliege, Westerwald

Ich sitze mit ungewaschenen Fingern am Abendbrottisch einer russlanddeutschen Familie. Man hat mir an den nackten Füßen Filzpantoffel angezogen. Der Vater schneidet die harte Wurst mit einem kurzen Messer vor seiner Brust in handliche Scheiben. Die Brotscheiben nimmt sich jeder selber aus der Klarsichtfolientüte. Die Frau stellt den kochend heißen Tee auf den Tisch. Der Sohn kümmert sich beiläufig noch um den Computer. Bis jetzt dachte ich, ich wäre hier, um etwas mehr über kirgisische Jurten zu erfahren. Da erzählt die Frau, dass der Mann jenseits der sechzig hier in Deutschland mit dem Glauben nichts mehr anfangen könne und auch nicht auf sie höre, wenn sie sich um seinen Blutdruck sorgt. Ich schau auf sein ziemlich rotes Gesicht. Jetzt bin ich wieder der Engel.