21.08.2017 Tagebucheintrag

Jürgen Fliege, Herrsching

Im fernen Nigeria ist die Mutter einer jungen Migrantin gestorben. Man hat angerufen, dass ich ihr in ihrer Trauer beistehe. Das ist nicht ganz ohne. Ich habe die junge Frau vor drei Jahren schon einmal um ein verstorbenes Frühchen trauern sehen. Das ist aus Mitteleuropäischer Sicht ziemlich extrem. Aber gleich mit Sedativa zu kommen, wie es eine Ärztin empfiehlt, halte ich für völlig unangebracht. Da dient das Sedativum eher unseren Ängsten als der Trauer der Frau. Warum soll sie sich nicht die Kleider zerreißen? Hat doch Hiob auch schon getan. Als ich bei ihr bin, ist alles halb so schlimm. Wir entwerfen ein Bild, dass die Mutter vom Himmel aus bis nach Herrsching weniger weit weg ist als von Nigeria aus. Ihre kleinen Kinder, das eine, das im Zimmer rumspringt und das andere Neugeborene auf dem Arm, werden sie aus der Trauer zurückholen, wenn sie hungrig sind. So geht Leben.
Abends noch ein langes Gespräch mit einem Krebspatienten. Das ist oft die gleiche Aufgabe: Wie macht man aus einem „Opfer“ von Krebs einen Täter mit Krebs.